Josef Hegemann über Josef Hegemann

Wenn ein Maler nur kurz über seine Arbeit schreibt, die schon über 5 Jahrzehnte andauert, so wird er anders planen müssen als ein Kunstgeschichtler oder Kunstkritiker, der durchweg abgeschlossene Bildwerke mit Distanz beobachtet, untersucht oder bewertet. Ich möchte über einige Ereignisse und Impulse berichten, die sich in mir festgesetzt haben, weil sie eine wichtige Rolle in meiner Arbeit spielten.

Im Jahre 1915 oder 1916 hatte ich als 5- oder 6-jähriger für irgendeine kleine Dienstleistung einen Groschen erworben. Dafür kaufte ich mir einen winzigen schwarzen Malkasten mit 5 oder 6 rechteckigen Farbsteinchen und einem kleinen Haarpinsel mit schwarzem Stiel. Ich saß allein in unserer Wohnküche in der Asternstraße in Hamm (heute Erich-Kästner-Str.) und machte meine ersten Versuche mit der Farbe. Als das Alleinsein zu Ende war, erhielt ich Vorwürfe, weil ich statt für Notwendiges, für einen Malkasten Geld ausgegeben hatte.

Ich erinnere mich heute noch genau an die damaligen Entdeckungen, daß ein starres weißes Blatt Papier Farbe freundlich aufnimmt, daß Farbe fließt und sich bewegt, daß Farbe etwas anderes ist als die Umgebung und daß Malen Freude und Glücksgefühl erzeugen kann.
An dieses Ereignis aus der Kindheit habe ich in späteren Jahren oft denken müssen, als ich mir bewußt wurde, daß Malerei für mich Bewegung bedeutet, daß sie antinaturalistisch ist, daß sie innere Kräfte entbindet und beansprucht, allerdings auch, daß der mit Demütigungen rechnen muß, der ernsthaft die Malerei betreiben will.

Zwischen meinem 14. und 19. Lebensjahr waren für mich beeindruckend die häufigen Atelierbesuche bei Theo Hölscher, meinem alten Zeichenlehrer. Ich sah ihm oft beim Malen zu. Er arbeitete damals an seinen „neusachlichen" Bildern, die mir gut gefielen. Er schaute sich meine Kopfzeichnungen in

Bleistift oder Tusche an und machte mir immer Mut. Sein pädagogisches Prinzip des Wachsenlassens und Mutmachens habe ich in meiner späteren Kunsterziehertätigkeit mit Überzeugung anwenden können.

Ein weiteres wichtiges Ereignis für meine Arbeit geschah im Wartesaal des Bahnhofs in Kassel, im Winter 1931/32. Es waren damals schlechte Jahre, aber der Wartesaal war warm. Ich zeichnete Arbeitslose mit schwarzer Tinte auf unbedrucktem Zeitungspapier. Sie bewegten sich, wenn auch langsam. Ich mußte also schnell zeichnen, alles nur andeuten, hier den Rand einer Schlägerkappe, den Faltenverlauf im Armwinkel, dort zusammengelegte oder sich spreizende Finger, oder die Kante einer Hakennase.Was auf dem löschblattähnlichen Grund entstand, waren an- und abschwellende Linien mit weichen Rändern, Linien, die plötzlich aufhörten, leere Stellen, Schraffuren, Überkreuzungen.

Ich entdeckte meine Spontaneität im Zeichnen vor der Natur, die kurze Zeit, den äußersten Zustand des Wachseins, der Konzentration und die schnelle Entscheidung. Aus dem mir damals akademisch erscheinenden Zeichnen in der Kunstakademie, das nur die lange Zeit kannte, war ich ausgebrochen. Seit der Arbeit im Wartesaal in Kassel, die nach etwa 14 Tagen wegen der Menschenansammlung durch Polizeiverbot abgebrochen werden mußte, weiß ich, daß die Zeichnung die lange und die kurze Zeit beanspruchen kann. Das war für mich eine entscheidende Erkenntnis.

Einen weiteren nachwirkenden Impuls empfing ich 1948 in einem kleinen Raum in Kierspe (31/2x3 m), nachdem ich lange Zeit Portraits und Landschaften gemalt hatte, die ich heute als konventionell beurteile. Spontaneität brach wieder durch, aber diesmal mit Ölfarbe auf Papier oder Sackleinen, Temperafarbe, Holzkohle und schwarzer Kreide, und fast immer ohne Modell. Diese Art der Spontaneität entstand aus einem Kampf zwischen der Gewissenhaftigkeit, die autonome Form eines Kopfes zum Beispiel erhalten zu müssen,und dem Freiheitsdrang, die Form zu zerstören. Diese Protestsituation gegen Bestehendes

und Vorhandenes entsprang wahrscheinlich aus der allgemeinen Lage von 1948. Dieser Kampf hielt jahrelang an. Er entschied sich langsam, erst 1956 in

meinem kleinen Atelier in Altena (4x4 m), in dem ich seit 1954 bis heute arbeite.

Ich fing an zu begreifen, daß das Bild sein eigenes Leben hat, die gewohnte erkennbare Form nicht mehr notwendig ist. Es begann für mich die bis heute andauernde sogenannte gegenstandsfreie oder absolute Malerei. Die Bildfläche al Ganzes, nach Ausdehnung und Grenze, wurde nun das Thema. Sie beanspruchte von jetzt an auch das Ganze der inneren Wirklichkeiten und der individuellen Kraft.

Ölfarbe und Temperafarbe reichten nicht mehr aus. Ich warf Sand auf die Hartfaserplatte (70 x 100 cm und 80 x 130 cm), zusammen mit Leinöl, Kunstharzbinder, Farbpigmenten und Textilien. Mit Deckenbürste, Modler, Spachtel oder Wurzelbürste wurden diese Materialien bewegt. Damit geschah die Gleichzeitigkeit von Farbenherstellung und dem Erlebnis des Bildganzen, das eine Entsprechung zum Weltganzen darstellt, dem jeder Maler verantwortlich bleibt. Einzelheiten, statische Punkte, schnelle Linien, wurden in das Bildganze eingefügt. Der Umgang mit verschiedenen Materialien forderte das Experiment heraus, und die Arbeitsweise verlief vom Ganzen ins Einzelne.
Von der Oberfläche her gesehen entstanden reliefartige Materialbilder.

Die letzte Arbeitsphase, in der ich noch stehe, begann im Frühjahr 1978. Sie ist für mich ein Ereignis, für das ich keine reale Begründung angeben kann. Langsam entwickelte sich die umgekehrte Arbeitsweise vom Einzelnen ins Ganze. Die Einzelheiten sind verschieden groß an Umfang, mal eine Schraffur mit dem schwarzen Kugelschreiber, dann ein großer rundlicher oder eckiger roter Fleck in Acrylfarbe, oft ein schwarzer Punkt in Kaseinfarbe, dann wieder eine blaue Linie mit dem Wachsmalstift. Die Größe dieser Einzelheiten ergibt sich aus der Dauer des meditierenden Handelns. Kleine und große Zeitabschnitte lassen dem Material entsprechend kleine und große Bildteile entstehen. Sie liegen im Bildraum neben- und übereinander. Alle möglichen Materialien aus Zeichnung und Malerei wechseln sich ab.

Die Antriebe sind Betrachtungen und Versenkungen aus Anlage, Erfahrungen und Weltschau. Ich glaube, daß das Streben und Werden über sich selbst hinaus jedem Menschen eingegeben ist. In fast allen Epochen haben Maler gemalt, was sie glaubten. Eine der vielen möglichen Meditationsformeln „Unser tägliches Brot gib uns heute", die immer noch Gegenwärtigkeit und Universalität enthält, kann durch die Wiederholung Parallelbänder, Schraffuren, Kreisbewegungen oder auch eine blaue Fläche entstehen lassen. Das aus dieser Meditationsformel notwendig entstehende Meditationswort „Hoffnung" kann für einen oder mehrere weiße Flecken Anlaß sein.

Nach den ruhig verlaufenden Meditations- und Malabschnitten brechen meistens, oft nach langem Warten, innere Quellen auf. Die Spontaneität setzt sich wieder durch.

Durchweg ist es der letzte Arbeitsabschnitt, in dem das Gleichgewicht der Gewichte und Bewegungen die geschlossene Einheit des Bildes, die kontrollierte Gestaltung, erreicht werden soll. Manchmal wird dieses letzte entscheidende Ziel durch Zufall gewonnen, meistens durch lange schwierige Umwege, die um so langwieriger sind, je kleinteiliger die bisherigen Ergebnisse geworden sind. Dabei fallen Bildteile weg, die stunden- oder tagelang mit Hingabe gemalt wurden. Aber einmal kommt der Zeitpunkt, wo ich selbstverantwortlich die Sicherheit spüre, daß das Bild fertig ist.

Ich bin mir aber auch sicher, daß die gesamte Arbeit in unserem Leben unvollkommen und unvollendet bleibt, nur ein Fragment, das aber bejaht werden will.

Josef Hegemann

Maler Altena 1982